Die Predigt im Wortlaut …
„Pflegenotstand“ – immer deutlicher wird der Mangel an Fachkräften in der Betreuung und Begleitung von pflegebedürftigen Menschen, wie überhaupt im sozialen Bereich. Fachkräfte fehlen ebenso im Bereich der Kinderbetreuung, der Betreuung von Menschen mit Behinderungen, in allen Beratungsdiensten und ganz massiv in der Pflege.
Bedenklich ist außerdem, dass die Verweildauer in sozialen Berufen immer kürzer wird. Zunehmend mehr Fachkräfte in den sozialen Diensten möchten den Beruf wechseln. Dabei werden u.a. Überbelastung und Rahmenbedingungen als Gründe genannt. Zudem wirkt sich auch der demografische Wandeln immer stärker aus. Der größer werdenden Zahl an älteren Menschen stehen immer weniger jüngere gegenüber, die Sorge für Mitmenschen wahrnehmen könnten.
Fachkräftemangel im sozialen Bereich – das bedeutet für mich nicht nur das Fehlen qualifizierter, professioneller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Diensten zur Begleitung in den unterschiedlichen Lebensbereichen und Lebensphasen. Fachkräftemangel möchte ich vor allem so deuten: Es fehlt an Menschen, die einen Blick für die Mitmenschen haben und sich beherzt beruflich wie auch ehrenamtlich und insbesondere im eigenen Lebensumfeld, im familiären Bereich für den Nächsten engagieren!
Vor einiger Zeit war ich zu einem Tag der Pflege in einer unserer großen Senioreneinrichtungen. Beim Gespräch mit den jungen Menschen in der Ausbildung zur Pflegefachkraft fiel mir eine sympathische junge Frau auf, die nach ihrem Abitur nicht an die Universität zum Studium, sondern ins Pflegeheim zur Pflegeausbildung ging. Ich stellte die Frage, wieso sie diese Entscheidung getroffen habe, obwohl sie hätte studieren können, zumal sie in dem jetzt angestrebten Beruf nicht unbedingt große gesellschaftliche Anerkennung erfahren wird. Dazu sind die Arbeitszeiten nicht gerade familienfreundlich. Nicht selten wird sie dem fordernden Verhalten von Angehörigen gegenüberstehen. Warum also will sie trotzdem in der Pflege arbeiten? Kurz und bündig antwortete sie: „Wegen der Leut‘!“ Anders gesagt: Weil ihr die Menschen am Herzen liegen, will sie ihnen auch im Alter zu einem menschenwürdigen und zufriedenen Leben verhelfen!
Ich weiß nicht, wie ausgeprägt der christliche Glaube in der jungen Frau verwurzelt ist, aber ihre Antwort ist getragen von Sympathie und Interesse an Menschen. Eine solche Einstellung ist zutiefst christlich. Genau durch diese Haltung und diesen Umgang mit der Not der Menschen, durch ihre Zuwendung zu den Schwachen fielen die Christen von Anfang an auf. Mit ihrem Tun gaben sie Zeugnis für die Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit Gottes.
Ähnliche Antworten erhalte ich von jungen Studierenden in unseren Fachakademien für Sozialpädagogik. Ihr Berufsziel in einem Kindergarten oder in einer Jugendhilfeeinrichtung streben sie nicht an, weil sie dort besonders viel verdienen können. Auch in unseren Heilerziehungspflegschulen treffe ich auf junge Leute, die einen Sinn und persönliche Erfüllung darin finden, für Menschen mit Behinderungen da sein wollen.
Der unvergessliche Malerpfarrer Sieger Köder hat in einem seiner unzähligen Bilder zur Bibel die Szene der Fußwaschung dargestellt. In dem dunklen, erdfarbenen Raum ist im Hintergrund, in helles Licht getaucht, das geteilte Brot und der Kelch zu sehen. Davor, ebenfalls in hellem Licht, eine Gestalt, die niederkniet und sich zu den Füßen in der Waschschüssel hinabbeugt. Auf dem Hocker sitzt Petrus, der das Tun nicht versteht und versucht abzuwehren.
Von Jesus ist also nur seine Haltung zu sehen, wie er sich vor Petrus niederkniet und ihm die Füße wäscht. Sieger Köder aber hat in die Waschschüssel das Gesicht von Jesus gemalt, das sich im Wasser spiegelt. Als ich das Bild einmal im Religionsunterricht einsetzte, rief ein kleiner Junge: „Jesus in der Waschschüssel!“
Sieger Köder stellt in seinem Gemälde den Zusammenhang zwischen Eucharistie und Diakonie, also zwischen Communio mit Jesus und untereinander und dem sozialen-caritativen Dienst her. Das eine hat mit dem anderen wesentlich zu tun.
Daran hat auch Papst Benedikt in seinem ersten großen Schreiben nach seiner Wahl im Jahr 2005 mit dem Titel „Deus caritas est“, „Gott ist die Liebe“ hingewiesen: „Das Wesen der Kirche drückt sich in einem dreifachen Auftrag aus: Verkündigung von Gottes Wort, Feier der Sakramente und Dienst der Liebe. Es sind Aufgaben, die sich gegenseitig bedingen und sich nicht voneinander trennen lassen. Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst.“
Die Communio, zu Deutsch Gemeinschaft, mit dem Auferstandenen und durch IHN mit Gott und untereinander wächst in der Feier des eucharistischen Mahles und im Dienst am Nächsten. Für beides gilt der Auftrag Jesu: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“
Während die Kirche bzw. einzelne kirchliche Akteure heutzutage eher ein fragwürdiges Bild von Kirche abgeben mit ihrem Gebaren – sei es im pastoralen Tun oder mit ihren nicht immer nachvollziehbaren geschäftsmäßigen kirchlichen Engagements, erfährt Kirche andererseits Anerkennung, wo sie klar und eindeutig für das Leben eintritt. So war vor einiger Zeit in einem Zeitungs-Interview auf die Kritik hin, warum eine Kommune bei der Betreuung von Flüchtlingen und Asylbewerber mit der Caritas zusammenarbeite, zu lesen: „Man kann über die katholische Kirche denken, wie man will: Die Caritas ist in der Flüchtlingsarbeit seit Jahren stark, nimmt das Thema ernst, nimmt sich um die Menschen an und schult seit längerem Ehrenamtliche. … Als Kommune könnten wir dies auch gar nicht allein stemmen.“
Zur gleichen Zeit war ein Bericht im Blick auf das kirchliche Engagement für Kindergärten zu lesen mit der Überschrift: „Ein wertvoller Beitrag für das Gemeinwesen!“
Wie anders dagegen all die Schlagzeilen, die wir täglich – leider auch aus dem sozialen Bereich – lesen müssen: sie berichten von einem Verhalten, das den Gewinn in den Vordergrund stellt und deshalb wenig Rücksicht auf Menschen nimmt. Aus einem der sogenannten Wohlfahrtsverbände kam mir die Aussage zu Ohren, dass sie sich nicht weiter im Bereich von Kitas engagieren wollen, weil da nichts zu verdienen sei. Ebenso werden Einrichtungen für Betagte und Pflegebedürftige geschlossen, weil sie nicht genug Gewinn abwerfen. Auch Beratungsdienste werden wegen zur geringer Refinanzierung eingestellt. Wer den Mitmenschen nicht nur nach dem möglichen Ertrag taxiert, der hat nicht wirklich ein Herz für die Menschen.
Der Einsatz für die Menschen und das Leben gibt Zeugnis für die Frohe Botschaft und den Auftrag Jesus zum Dienst am Nächsten. So wie Jesus nur in der Spiegelung der Waschschüssel zu sehen ist, so sind wir als Kirche nur dann als seine Nachfolger zu erkennen, wenn wir seinem Auftrag folgen und dem Leben dienen.
Das tun wir aber nicht aus eigener Kraft, sondern ER selbst stärkt uns dazu mit seinem Beispiel, das ER gibt, und in der Communio, in der ER sich uns einverleibt. Alles Tun der Christen wie der Kirche bliebe nur geschäftsmäßig, wenn es nicht aus der herzlichen Verbindung zu IHM heraus geschieht. Deswegen sind Eucharistie und Dienst am Nächsten unverzichtbar. Beides gehört zusammen.
Der frühere, vor zwei Jahren verstorbene Bischof von Évreux in Frankreich, Jacques Gaillot, schrieb das sehr lesenswerte Buch: „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts!“
An unserer Bereitschaft zum Dienst am Leben werden wir gemessen und daran liest die Welt die Wahrheit des Evangeliums ab. Und immer dann, wenn die Kirche das vergessen hat, fiel sie auf die Nase – zuletzt bei der Säkularisation 1803. Damals wollten viele kirchliche Akteure nicht wahrhaben, dass sich ihre Situation entscheidend verändern wird. Schneller als sie dachten, waren sie alle ihre Ämter, Titel, Pfründe los und verloren riesige Besitztümer.
Dass dann aber hundert Jahre später die Kirche in einer unerwarteten Blüte stand, war deshalb möglich, weil sie im 19. Jahrhundert die soziale Frage und darin ihren Auftrag entdeckte.
Vieles, was sich heute an kirchlicher Selbstbeschäftigung abspielt – und das beileibe nicht nur in den Ordinariaten, sondern auch in den immer mehr in sich gekehrten Pfarreien – erinnert in manchem an die Geschichte von damals.
Der Dienst am Nächsten ist der Maßstab für die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung. Das Bild von Sieger Köder macht es anschaulich: Durch das Mahl mit Jesus und in seinem Dienst kommt Licht in die vielfach dunkle Welt. Petrus scheint es langsam zu begreifen. Mit einer Hand wehrt er zwar noch ab, aber mit der anderen hält er sich an Jesus fest und so mischen sich in seine erdfarbene Gestalt erste helle Farbtöne. Er scheint zu begreifen, auch wenn er sich noch wehrt, weil er vielleicht Angst hat vor der Konsequenz, nämlich: ebenso wie Jesus dienen zu müssen.
Wenn das Miteinander der Menschen wieder von dieser Haltung bestimmt ist, dann werden wir auch den Fachkräftemangel und damit den „Pflegenotstand“ im Sinne der Menschen meistern können. Dann wird wieder klar, dass wir Christen – beruflich wie ehrenamtlich – Fachkräfte in der Sorge um den Nächsten sind.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Fußwaschung
Jesus zeigt, wie weit er in seiner Liebe geht.
Diesen Dienst hatten sonst nur
heidnische Sklaven zu tun.
Doch Jesus wollte damit Beispiel sein,
einander in Liebe zu dienen:
Nächstenliebe in Tat umgesetzt.
Vielleicht hatte Petrus Angst davor,
dieses Beispiel nachahmen zu müssen.
Auch wenn wir oft schwach oder feige sind
– wie Petrus, dennoch liebt uns Jesus.
Er wäscht uns die Füße!
Doch darin ist – bis heute – die Bitte enthalten,
das Gleiche zu tun.
Weil Jesus uns geliebt hat,
können wir seine Liebe weitergeben,
damit auch wir Gemeinschaft mit Jesus haben.
(Autor unbekannt)