Der Gründung des Caritasverbandes für die Diözese Würzburg geht eine lange Geschichte im Dienst am Nächsten voraus. Dem Auftrag Jesu zur Nächstenliebe folgten in allen Generationen beherzte Christen. Zu allen Zeiten mit all ihren Veränderungen, Herausforderungen und Zumutungen nahmen sie sich der Not der Mitmenschen an. Mit den epochalen Veränderungen durch die sogenannte „industrielle Revolution“ (in Wirtschaft und von daher in der Gesellschaft und mit den Auswirkungen auf die bislang engen sozialen Netze) haben sich an vielen Orten Initiativen, Kreise und Gruppen gegründet. Damit entstanden Strukturen, um der Hilfsbereitschaft und Hilfeleistung Stabilität, Kontinuität, Verlässlichkeit und mehr und mehr Qualität zu geben.
Wichtige „Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer“ waren neben den „Pionieren“ der sozialen Arbeit aus dem Bereich der Pastoral die im Laufe des 19. Jahrhunderts entstandenen caritativen Ordensgemeinschaften. Mit ihrem Einsatz und ihrer Unterstützung wurden viele soziale Einrichtungen geschaffen.
Die Gründung des Diözesan-Caritasverbandes war die richtige und wichtige Antwort auf die zunehmend mehr und immer umfangreicheren Fragen, wie die caritativen Dienste sichergestellt werden können. Gerade in sehr schwierigen Zeiten wie z. B. in den vielfältigen Nöten der Nachkriegszeit oder etwa in der Corona-Epidemie (genau zu der Zeit, als wir eigentlich das 100-jährige Bestehen des DiCV begehen wollten) zeigte sich die Stärke der subsidiären Strukturen in unserer Caritasarbeit in der Diözese Würzburg: Der unmittelbare Dienst am Menschen – entsprechend unserem bleibend gültigen Leitwort „Nah am Nächsten!“ – mit den vielfältigen Initiativen im Lebensraum der Menschen wird vom Diözesan-Caritasverband fachlich begleitet, inspiriert, unterstützt, somit entlastet und gefördert. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DiCV stützen und stabilisieren die sozialen Aktivitäten in rund 900 Einrichtungen und Diensten und stärken somit die subsidiäre Struktur. Diese Vernetzung war mit der Gründung des DiCV beabsichtigt.
Die Stärke der subsidiären Struktur der Caritasarbeit und ihrer Dienste in der Diözese Würzburg ist ihre Vernetzung und das Nutzen von Synergien, von Angeboten des Diözesan-Caritasverbandes für die lokalen sozialen Handlungsfelder. Zugleich wird das Profil als Caritas der Kirche inspiriert und geschärft.
Caritas in der Diözese Würzburg ist kein zentralistisch geführter Sozialkonzern, sondern die Summe von zahlreichen sozialen und caritativen Initiativen vor Ort, im Lebensraum der Menschen, die auch dort verantwortet werden. „Not sehen und handeln“ ist deshalb das zutreffende und wirkungsvolle andere Leitwort.
Es geht uns um den ganzen Menschen. Es geht um weit mehr als nur eine pflegerische oder pädagogische Maßnahme oder Betreuung, es geht darum, den Menschen in seinem Herzen zu berühren und ihn spüren zu lassen: Du bist nicht allein! Gott stellt dir gute Menschen an die Seite, durch sie geht Gott selbst mit dir. Beides gehört unmittelbar zusammen, das caritative und das pastorale Bemühen. Diese Grundhaltung in der Sorge um das Leben durchzieht die Geschichte der Christen, der Kirche wie ein roter Faden. Das belegen die Überlieferungen vom Wirken der christlichen Gemeinden in den ersten Jahrhunderten.
Seit dem Studium begleitet mich der Text einer Anweisung einer syrischen Kirchenordnung aus dem 5. Jahrhundert. Darin wird deutlich, dass der für die sozialen und caritativen Anliegen Zuständige gleichsam das Auge der Gemeinde war: „Wenn der Diakon in einer Stadt tätig ist, die am Meere liegt, soll er sorgsam das Ufer absuchen, ob nicht die Leiche eines Schiffbrüchigen angeschwemmt worden ist. Er soll sie bekleiden und bestatten. In der Unterkunft der Fremden soll er sich erkundigen, ob es dort nicht Kranke, Arme oder Verstorbene gibt, und er wird es der Gemeinde mitteilen, dass sie für jeden tut, was nötig ist. Die Gelähmten und die Kranken wird er baden, damit sie in ihrer Krankheit ein wenig aufatmen können. Allen wird er über die Gemeinde zukommen lassen, was Not tut.“
Unzählige Christen folgen seit 2000 Jahren der Sendung Jesu und gehen mit offenen Augen durch die Welt, haben ein Gespür für das, was Not tut, und was wir nicht aus den Augen verlieren dürfen, wenn wir wirklich als Christen im Geiste Jesu leben und wirken wollen.
Vom Dom in Würzburg aus gesehen sind gleichsam sternförmig in alle Richtungen beherzte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Dienst der Caritas unterwegs. Mit ihrem Einsatz für Menschen – ob in Beratungsdiensten, in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, in Fördereinrichtungen und Schulen, in der Sorge um Menschen mit Behinderungen, in der Migrations- und Integrationsarbeit, in Angeboten für Familien, in der Senioren- wie auch Pflegeeinrichtungen bis hin zur Begleitung Sterbender und ihrer Angehörigen – nehmen sie sich der Nöte an und geben zugleich Zeugnis für die Frohe Botschaft Jesu. Der Dienst von beruflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird stark unterstützt durch den Einsatz zahlreicher Ehrenamtlicher.
Das Zweite Vatikanische Konzil stellte fest: Kirche versteht sich als „Sakrament“, d. h. „als Zeichen und Werkzeug“ Gottes für die Welt. Deshalb wird sie wachen Auges durch die Welt gehen und auf die Nöte der Menschen achten und ihnen zu Hilfe kommen, wo immer und wie immer es ihr möglich ist. Das ist die Aufgabe unserer Kirche, die – ebenso im Zweiten Vatikanischen Konzil programmatisch formuliert – „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute teilen“ will.
Alle, die im unmittelbaren Dienst an den Menschen stehen, verkörpern somit das „Auge der Kirche“ und haben einen Blick für die materiellen, geistigen und geistlichen Nöte der Menschen, um diese in der Kirche zu Gehör und zum Bewusstsein bringen.
In „Berufen zur caritas“ schreiben die Deutschen Bischöfe: „Inmitten aller Veränderungsprozesse in unserem Land und in unserer Kirche bilden die vielen Initiativen und Dienste des Liebeshandelns der Kirche ein ‚Netzwerk der helfenden Hände‘ und genauer: ein ‚Netz der Caritas‘ in der deutschen Gesellschaft und über sie hinaus. Dieses Netz fängt viele in Not geratene Menschen auf und hält sie.“
Immer wieder gilt es, sich des Auftrags und der Sendung zum Dienst am Nächsten zu vergewissern. Das erfolgt derzeit auch im Zusammenhang mit den Überlegungen der Diözese Würzburg, wie auf Zukunft hin „Christsein unter den Menschen“ gelebt werden kann. Dabei begleitet uns ein Satz, der uns vor Jahren ins „Stammbuch“ geschrieben wurde: „Caritas hilft anderen nicht, weil diese Christen sind, sondern weil sie selbst christlich ist.“ Oder wie der frühere Innsbrucker Bischof Reinhold Stecher es formulierte: „Man fragt nach der Not, nicht nach dem Glaubensbekenntnis!“
Als Caritas fragen wir nicht zuerst: „Wer finanziert?“ oder gar „Was verdienen wir dabei?“ oder „Was haben wir davon?“ Wir fragen zunächst nach der Not und wie wir helfen können. Dann erst fragen wir, welche Möglichkeiten wir haben und welche Unterstützung es braucht, um die konkrete Not menschenwürdig zu bewenden.
Gemeinsam mit unserem Bischof sage ich am Gründungstag des Diözesan-Caritasverbandes den unzähligen Menschen „Danke“ und „Vergelt‘s Gott“, die vor uns unermüdlich unterwegs waren, um der Sendung Jesu folgend, für diejenigen da zu sein, die Not litten.
Unser Dank gilt heute denen, die sich in unserer Zeit nicht entmutigen lassen, als Kirche den Menschen zum Leben zu verhelfen – die vielen beruflichen und zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas. Besondere Anerkennung verdienen alle, die sich auf allen Ebenen in unseren Caritasvereinen und Gremien engagieren, die Trägerverantwortung übernehmen, die sich als Ehrenamtliche in den gemeinsamen Dienst am Nächsten stellen. Danke gilt es auch allen zu sagen, die unsere Dienste unterstützen – durch ihre politische Verantwortung, in Institutionen, Verbänden, Behörden, mit den Möglichkeiten ihrer Wirtschaftsunternehmen, ebenso persönlichen Förderern.
Unsere gemeinsame Bitte am Gedenktag unserer Gründung ist, dass Gott unser Bemühen mit SEINEM Segen begleite, damit auch in Zukunft Menschen mit der Caritas der Kirche in SEINEM Namen unterwegs sind und „Not sehen und handeln“!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
DAS LIED VOM MENSCHENSOHN
Soviel Menschen seh’ ich gehn,
sie sehn sich nicht an.
Voller Leid ist ihr Gesicht,
ach so gehn sie dahin.
Gibt es denn keinen, der nach ihnen fragt,
der ihnen etwas Gutes sagt?
Ein jeder braucht doch einen, der ihn kennt,
der ihn bei seinem Namen nennt!
Der ist krank und der ist arm,
und der ist zuviel.
Der da kommt nirgends zurecht
und muss sehn, wo er bleibt.
Ich sing’ von einem, der die Kranken heilt,
sein Leben mit den Armen teilt.
Ich sing’ von einem, der die Menschen liebt,
der ihnen neue Hoffnung gibt.
Überall in unserer Welt,
vielleicht neben dir,
weint ein Kind, streiten sich zwei,
ach, wer zählt all das Leid?
Ich sing von einem, der das Kind umarmt,
der sich der Leidenden erbarmt,
ich sing’ von dem, der gegen Unrecht schreit,
ich sing’ von dem, der uns verzeiht.
Seht ein Mensch, er geht zugrund,
wir alle sind schuld.
Hängt am Kreuz, trägt unsre Schuld,
es ist vollbracht.
Ich sing’ vom Menschen und vom Menschenleid,
ich sing’ von dem, der uns befreit.
ich lebe von ihm wie von Brot und Wein
und so wie er so möcht’ ich sein.
(Lothar Zenetti)